Nichts war vergebens, aber das Ende zu früh

Nein, ich habe nicht vor diesen Nachruf so zu verfassen, wie man das sonst macht. „In tiefer Trauer“, „mit schwerem Herzen“… Sowas kann ich nicht schreiben, da bin ich nicht der Mensch für. Ich schreib eher, dass ich das total scheiße finde. Oder sowas ähnliches halt. Das klingt eher nach mir. Und am Ende ist ein Nachruf auch so etwas wie Trauerbewältigung und die macht jeder auf seine Art. Sie würde mich sicher gelangweilt angucken, wenn sie von mir nichts besonderes bekommen würde. „Na, Sie hätten sich ja wenigstens anstrengen können.“ Ok, mach ich jetzt auch.

Letzten Donnerstag, am 11. August, nachmittags, starb Lola Jegielka. Sie hinterlässt zwei Eltern und einen älteren Bruder.

Ich war ihr Trainer und ihr Lehrer. In meinem Kopf befinden sich Wut und Fragen, eher wenig Trauer. Während ich diese Zeilen schreibe, bin ich einigermaßen tapfer, auch wenn es mir Pur und Reinhard Mey, die hier in Dauerschleife laufen, nicht einfacher machen. Aber Tränen in einer Jugendherberge während der Deutschen Meisterschaft u10 fühlen sich auch irgendwie falsch an.

Lola kam auf normalem Wege zum Schach. Beigebracht hatte es ihr der Papa und mit ihrem Bruder hatte sie dann zwei Gegner zu Hause. Ihren ersten echten Turnierauftritt hatte sie (als fleißige Mosaik-Leserin) beim Abrafaxe-Turnier 2015, Gruppe D. Damals reichte es immerhin für drei Unentschieden („Was soll das denn jetzt heißen? Immerhin?!?“). Sie nahm dann noch an den drei folgenden Abrafaxe-Turnieren teil, 2018 hatte sie dann 2,5/7 („Aber Schnellschach war noch nie meine Stärke“).

2016 wechselten wir beide aufs Andreas-Gymnasium, sie in die 5. Klasse, ich als Lehrer. Zu dem Zeitpunkt kannten wir uns aber noch nicht. Ich bekam ihren Bruder, der damals in die 7. Klasse ging, in Chemie und Latein. Irgendwann startete ich an meiner damaligen neuen Schule natürlich auch mit einer Schach-AG und irgendwann schaute Lola da auch mal vorbei, denn zu Hause hatten Bruder und Vater inzwischen keine Lust mehr gegen sie zu spielen. Wie praktisch, dass sie mit Lara ein ebenfalls schachbegeistertes Mädchen fand, das nur ein Jahr älter/eine Klasse höher war. Groß war die Freude, als dann Edna und Lea aufs Andreas-Gymnasium wechselten und wir eine schlagkräftige Mädchenmannschaft zusammen hatten, die dann sogar 2020 Berliner Meister im Schulschach werden konnte (eines der letzten Turniere im März). 2021 spielten wir noch die Deutschen Schulschachmeisterschaften online mit und konnten mit Platz 8 unter den Besten 10 landen. Lola spielte hier Brett drei und holte 4/7. 2019 hatten wir bereits die Deutsche Schulschachmeisterschaft WK M gespielt. Wir wurden 10. von 22, Lola holte am 3. Brett 2,5/6.

Bei diversen Opens hatte sie mitgespielt und häufig auch den Mädchenpreis ihrer AK geholt. Eine Geschichte hierzu: Das Open fand im Andreas-Gymnasium statt und wir hatten Siegerehrung in der Aula. Lola spielte in einer der höheren Altersklassen, d.h. die meisten Medaillen und Pokale gingen ans Herder-Gymnasium. Um einen kurzen Weg zu haben, stand also die Gruppe vom Herder relativ nah an der Bühne und jedesmal, wenn einer der Ihren aufgerufen wurde, gab es entsprechend lauten Jubel, der entsprechende Spieler ging zur Treppe, kam auf die Bühne und nahm Pokal/Medaille in Empfang. Der Preis für das beste Mädchen ging an Lola und auch sie kam auf die Bühne. Fair wie es ist, klatschte das Herder-Gymnasium erneut, stoppte aber schlagartig. Statt wie alle anderen die Treppe zu nutzen, ging Lola nämlich auf direktem Wege auf die Bühne, indem sie etwas Anlauf nahm, ein Bein auf die Bühne hob (ca. 1,20 m hoch) und mit Schwung oben stand. Wer 3x die Woche Balletttraining hat, macht so einen kleinen Spagat mit Sprungeinlage nebenbei, aber das wussten ja die Herderianer nicht. Ich schaute also in lauter verdutzte Gesichter, von Jungs, die erstmal verarbeiten mussten, was sie da gerade gesehen hatten. Betreuer Thomas Binder hatte seinen Spaß. Lola bekam davon nichts mit und ich erzählte ihr das ganze später. Doch sie verstand gar nicht, was das Problem war: „Hä, wieso, was war denn daran so besonders?“

An dieser Stelle sei erwähnt, dass ich übrigens permanent eifersüchtig auf ihr Balletttraining war, weil sie dafür häufiger Mal Schachtermine sausen ließ. Aber solange Sie Spaß hatte, watt willste machen? („Oh nein, bitte reden Sie wieder normal.“)

An der Deutschen Familienmeisterschaft nahm sie seit 2019 jedesmal mit ihrem Vater teil. Er hatte dann die Idee, da das Spiellokal in Oberschöneweide etwas ab vom Schuss war, in den BVV-Saal des Bezirksamtes Mitte zu wechseln, den er dann auch ranorganisierte. Dort waren wir folglich die letzten drei Male auch. An der Meisterschaft im März dieses Jahres konnte sie schon nicht mehr teilnehmen.

Lolas Spitzname bei Hr. Dräger (der besten Putzkraft der Welt) war Blaupunkt. Man muss dazu wissen, dass unsere Putzkraft sich einfach keine Namen merken kann, was bei der Menge an Schülern auch nicht einfach ist. So bezeichnet er die Schüler bildlich nach den auffälligen Eigenschaften, die er beim ersten Kennenlernen feststellt. Dies war in Lolas Fall ein Aufbau für ein Schachturnier. Ich hatte an dem Tag eine weiße Hose an und hatte mich, der ich gern mal auf Tischen sitze, in einen Tintenfleck gesetzt. Den Rest des Tages lief ich also mit einem blauen Punkt auf dem Hintern rum und Lola kicherte während des gesamten Aufbaus vor sich hin und witzelte rum. So kam dieser Spitzname zustande.

V.a. gegen Ende der 6. Klasse gab es für Lola als einzig spannende Frage, ob sie mich im nächsten Schuljahr als Chemie- und Lateinlehrer bekommen würde. Es kam so und fortan hatten wir ca. drei bis vier 90 min-Blöcke die Woche Unterricht. Lola war eine sehr gewissenhafte und fleißige Schülerin, die sich über alles zu viele Gedanke machte, um sich dann an anderer Stelle zu verzetteln. Leider litt da drunter auch ihre Mitarbeit. Lieber sagte sie nichts, als dass sie etwas Falsches sagte. Wenn man sie aber rannahm, wusste sie dann vieles. In Latein half ihr Fleiß ihr weiter. Zwar verschusselte sie gern mal eine Arbeit zur 2 („Das wird bestimmt wieder ne 4.“ „Hä, du hattest noch nie ne 4 in einer Lateinarbeit.“ „Ja, aber diesmal wird’s eine.“), doch dafür konnten ihre Tests am Ende häufig noch die 1 auf dem Zeugnis holen. In Chemie war sie anfangs nicht ganz so stark und pendelte zwischen 2 und 3, wurde aber im Laufe der Jahre besser, als Chemie auch logischer wurde.

Eines schönen Freitages hatte sie bereits frühzeitig Schluss, nachmittags wollten wir aber für ein Schachturnier aufbauen. Damit sie nicht unnötig gelangweilt warten musste, setzte sie sich als 9.-Klässlerin in meinen Chemie-Grundkurs 11. Klasse. Das Thema war Quantenchemie, Orbitaltheorie und die Pauli-Schreibweise. Während mein Kurs seine liebe Mühe hatte, saß Lola dabei und hörte aufmerksam zu. Während wir am Nachmittag das Schachturnier aufbauten, konnte sie vieles aus der Stunde wiedergeben, was mich ziemlich beeindruckte („Wieso, so schwer war das nun wirklich nicht.“). Damit war die Idee geboren, dass sie doch in der Oberstufe Chemie-LK wählen könnte. Die ganze restliche 9. Klasse und mit Beginn der 10. führten wir einige Diskussionen, da sie zwischen Geografie, Chemie und Biologie schwankte. Am Ende fiel ihre Wahl auf die beiden erstgenannten, was übrigens meine Idee war.

Bei der Rückgabe einer Lateinklassenarbeit meinte ich zu ihr: „Hier deine Arbeit und die Rechnung vom Optiker schicke ich direkt an deine Eltern.“ „Hä, was für ne Optikerrechnung?“ „Na die für meine Brille.“ „Hä, Sie haben doch keine Brille.“ „Ich brauch aber eine, nachdem ich deine Arbeit korrigiert habe.“ Sie grinste breit. Man muss wissen, dass Lolas Arbeiten von der Form her perfekt waren. Es wurde selten gekillert und nie getippext, meistens mit Lineal und Bleistift durchgestrichen. Mehr als drei Verschreiber auf einer Seite waren ein Grund, den Text nochmal sauber und ordentlich abzuschreiben. Dabei sah ihre Schrift aus wie gedruckt, allerdings war die Schriftgröße winzig.

Apropos grinsen: Lola hatte jeweils ein Grübchen auf jeder Wange links und rechts, die man am beste sah, wenn sie lachte. Allerdings waren ihr die peinlich, sodass sie sie versuchte zu verdecken, wenn man sie drauf ansprach – oder sie rollte einfach nur mit den Augen.

In Latein saß sie von der 7. bis zur 10. neben Isi, dem einzigen anderen Mädchen. Sie verstanden sich gut und waren beide ungefähr gleich stark, mein Dreamteam vorne rechts. Sie waren sich auch immer einig, wenn darum ging hinter meinem Rücke zu tuscheln und zu kichern.

In der 9. Klasse fuhr ich mit meinem damaligen Leistungskurs auf Kursfahrt nach Marseille. Lola war mit ihrer Familie war ein Jahr vorher im Urlaub dort gewesen und wollte von mir die komplette Planung der Fahrt haben, damit ich auch ja nichts Wichtiges vergesse anzuschauen. Im Anschluss wurde meine Fahrt ausgewertet, ob ich auch ja alles Sehenswerte gesehen hätte und welche denn meine Lieblingscalanque war.

Schüler vermuten ja, dass Lehrer Lieblingsschüler haben. Ob das für andere Lehrer gilt, kann ich nicht sagen, aber bei mir ist es wohl so, wobei aber Lieblingsschülerdasein nicht an gute Leistungen gekoppelt ist. Es ist lediglich die übliche Sympathie, die man anderen Menschen gegenüber nunmal entgegenbringt – oder eben auch nicht. Lola war definitiv eine meiner Lieblingsschülerinnen, also ein Mensch, für den man sich gern an einem kalten Februarmorgen nachts um viertel acht aus dem Bett quälte. Dabei habe ich selbstverständlich streng darauf geachtet, dass sie immer die Note erhielt, die alle anderen in derselben Situation ebenfalls erhalten hätten. Natürlich war nicht immer alles Friede, Freude, Eierkuchen. Die meiste Zeit, die wir uns kannten, war Lola in der Pubertät und auch wenn Alkohol- oder Tabakausflüge nicht auf ihrer Liste standen, so war sie ja doch ein pubertierender Teenager, mit dem ich häufiger mal aneinandergestoßen bin – wobei ich ja auch nicht ganz einfach bin, obwohl schon ein/zwei Jahre aus der Pubertät raus.

Es war ihr immer peinlich, wenn ich mit ihren Eltern kommunizierte. Sämtlicher E-Mailverkehr und Gespräche wurde ausgiebig analysiert. Das eine Mal brauchte sie eine Woche, um ein Telefongespräch mit ihrem Vater zu verarbeiten. „Hr. Sill! Meine Mutter meinte gestern: ,Was macht Hr. Sill eigentlich in meinem Wohnzimmer?‘ nur, weil Sie auf Lautsprecher mit meinem Vater telefoniert haben. Das war so peinlich.“ Es war sowieso häufig vieles „peinlich“, was ihre Eltern oder ich machten.

Viel Spaß hatte sie während der Corona-Zeit nicht. Mit ihrem Bruder teilte sie ein Zimmer und es wurde entsprechend eng, wenn man wochenlang nicht raus kommt. Im März 2020 war sie in der 8. Klasse und ihre 9. erlebte sie coronabedingt quasi nur von zu Hause aus. Mit ihren Klassenkameraden freute sie sich sehr, dass die 10. versprach wieder einigermaßen normal zu werden. Im September 2021 spielte sie noch für Borussia die NDVM u16w mit. Im Herbst 2021 bauten wir noch gemeinsam Schachturniere auf und diskutierten ihre Kurswahl aus. Das Große Jugendherbstopen Ende Oktober sollte ihr letztes Turnier werden. Sie holte den Mädchenpreis mit 2,5/5 Punkten. Im Verlauf des Winters kündigten sich schwarz Wolken an, da sie ohne einen Grund zu nennen die Abschlussfahrt ihrer Klasse für Juni absagte. Am ersten Montag nach den Ferien war sie noch in der Schule, musste aber frühzeitig nach Hause, weil es ihr nicht gut ging. Irgendwann bekamen wir dann auch die Diagnose mitgeteilt. Wir drückten die Daumen und am Ende des Frühlings sah auch alles gut aus. Sie forderte von mir den aktuellen Stoff in Latein und Chemie an, damit sie den Anschluss hält für Chemieleistungs- und Lateingrundkurs. Ich meinte zwar, sie solle sich schonen und erstmal gesund werden, aber sie war da ungeduldiger. Noch zwei Chemos, dann sollte wieder alles in Ordnung sein. Im Juni hatten wir das letzte Mal Kontakt. Sie wollte wissen, wie ihre Schachfreunde auf ihre Krankheit reagieren, wie mein LK im Chemieabitur abschneidet und wer ihr zukünftiger Geo-LK-Lehrer wird. Im Juli kam dann die Nachricht, dass der Krebs doch gestreut hatte und es sehr schlecht aussieht.

Letzten Donnerstag, am 11. August, nachmittags, starb Lola Jegielka. Sie wurde nur 15 Jahre alt.

Reinhard Mey singt in „Lass nun ruhig los das Ruder“ folgende Zeilen. Mögen sie trösten:

„Und der Wind wird weiter weh’n
Und es dreht der Kreis des Lebens
Und das Gras wird neu entsteh’n.
Und nicht ist vergebens.
[…]
Heimkehr’n in den guten Hafen
Über spiegelglattes Meer,
Nicht mehr kämpfen, ruhig schlafen,
Nun ist Frieden ringsumher.“

Dieser Beitrag wurde unter Uncategorized veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

4 Antworten zu Nichts war vergebens, aber das Ende zu früh

  1. Jürgen Schulz-Brüssel sagt:

    Da ist mir spontan gleich beim ersten Lesen die Erinnerung an Götz Georges letzte Tatort Szene gekommen
    https://www.youtube.com/watch?v=zrzldsg-y5Q
    Es war jedenfalls auch das, was mir durch den Kopf ging – nach so viel Hoffnung noch vor den Sommerferien …
    Ich möchte es versöhnlich enden lassen. You never walk alone
    https://www.youtube.com/watch?v=OV5_LQArLa0
    vor vielen Jahren auf der Trauerfeier eines viel zu früh gestorbenen Kommilitonen gespielt.

  2. Sophie Julie M. sagt:

    Lola würde in der jetzigen Situation sagen: „Doof gelaufen aber sei nicht so traurig. Lach lieber das hilft.“
    Ich vermisse deinen nie endenden Optimismus, deine Gesellschaft und vorallem dein wunderbares Lachen unglaublich.

  3. Es zieht mir den Boden unter den Füßen weg. RIP.

  4. R. U G. sagt:

    So ein wunderbarer Mensch wach ,klug, wissbegierig
    …..man hört der Schmerz wird weniger

    Im Gegenteil……. Wir bereuen verschenkte Zeit durch Pandemie und unbedeutende Befindlichkeiten .

    Sie fehlt mit Ihrer scönen ehrlichen,einfordernen Art so oft .

    Es bleiben so schöne Momente, der Weihnachtsmann der ständig zu spät kommenden Tante,das Schwimmwunderlinchen….

    Dem grossen Grinsen beim Trabant fahren…..

    Gleich wäre Sie 17 Jahe geworden.

Schreibe einen Kommentar zu Thomas Binder Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert